Rock am Ring 2016 – Aus der Sicht eines „Eingeborenen“

Ich sitze hier vor meinem Rechner und lasse die letzten Tage und Stunden durch meinen Kopf gehen. In meinem Garten zwitschern die Vögel und mein geliebtes Mendig zeigt sich von seiner besten Seite: strahlender Sonnenschein und zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich nicht, als würde ich in einer Großstadt wohnen, denn endlich sind die Martinshörner verstummt, die, neben dem Donner, das Klangbild der letzten Tage in Mendig beherrschten. Ich verfolge, wie seit Tagen, die Medien und sozialen Netzwerke, und ich überlege mir was ich zu Rock am Ring 2016 schreiben soll, weil mein Chefredakteur mich darum gebeten hat, als Besucher und Anwohner ein paar Zeilen darüber zu schreiben. Die Reaktionen auf Facebook zur Absage von Rock am Ring scheinen mir derzeit genau so aufgeladen, wie das Wetter, das seit etwa zwei Wochen über der Eifel wütet und ebenso unberechenbar scheinen sich auch die Shitstorms zu entladen.
Rock am Ring

Am Freitag, kurz vor Tenacious D brach ein heftiges Unwetter über das ehemalige Flugplatzgelände herein, was eine traurige Bilanz von rund 80 Verletzten, davon acht schwer, erbrachte. Ein Mensch ringt zurzeit noch um sein Leben. Sieht man erst einmal diese Zahlen, ist es absolut nachvollziehbar, dass man das Festival freitags erst für die Dauer des Infernos unterbrach und am Samstag nach weiteren Unwetterwarnungen erst einmal aussetzen ließ, um am Abend noch einmal einen Re-Start zu wagen, nachdem die Lage sich abends beruhigt hatte. Lange war ungeklärt geblieben, ob es am Sonntag weitergehen würde, aber schon lange vor der endgültigen Absage für den Sonntag, hielt sich das Gerücht, dass es so kommen würde, hartnäckig auf dem Gelände. An der Diskussionen teilzunehmen, ob ein Abbruch nun die richtige Entscheidung war, empfinde ich als sehr schwierig, denn ich bin, im Gegensatz zu den anderen tausenden Menschen, die es gerade alle auf Facebook und dergleichen besser wissen wollen, weder Meteorologe oder Veranstalter, noch stehe ich in der politischen und moralischen Verantwortung eine solche Entscheidung treffen zu müssen. Ich maße es mir auch nicht an, es besser als der vor Ort eingesetzte Katastrophenschutz oder die Technische Einsatzleitung (Feuerwehren, Technisches Hilfswerk, Deutsches Rotes Kreuz und Polizei) zu wissen. Ich kann nur aus meiner Sicht als alter Festivalhase sprechen, der sein erstes Festival 1985 auf der Loreley im Alter von acht Jahren erlebte. Headliner war damals ein gewisser Roger Chapman. Mein erstes „Rock Am Ring“ erlebte ich dann 1995, damals noch ein 2 Tage Festival. Damaliges Highlight für mich: Faith No More. Mein vorerst letztes RAR besuchte ich dann 1997 unter anderem mit Aerosmith. An dieses Festival erinnere ich mich übrigens noch sehr gut, denn mir ist das Zelt abgesoffen und auch auf diesem Rock am Ring schlug bei Chris Reas „Road to Hell“ ein Blitz in die Hauptbühne ein und legte die gesamte Stromversorgung am Nürburgring flach. Soll mir also im Netz niemand mit: „Früher auf dem Nürburgring ist so was nie vorgekommen!“, um die Ecke kommen. Verletzte gab es heute, wie damals. Kälteeinbrüche, Regen und Schlamm gehören zum Ring dazu, wie das Dosenbier. Und wer nicht überzeugt davon ist, dass so etwas auf dem alten Gelände nicht möglich gewesen wäre, kann sich ja mal die Bilder vom letzten 24-Stunden-Rennen ansehen. Daraus wurde auf einmal ein 48-Stunden-Rennen, weil man auch da wegen heftiger Gewitter und Starkregen die Veranstaltung einige Zeit unterbrechen musste. Nach 1997 überzeugte mich das Line-up des RAR nicht mehr, sodass es mich als alten Headbanger zu anderen Festivals zog. Ob „Wacken“, „With Full Force“, „Rock Hard“, „Summer Breeze“, „Gras Pop“, etc.: ich war auf verschiedenen Festivals in unterschiedlichen Regionen dabei und sollte so langsam an die 40-50 Mehr-Tages-Festivals auf dem Buckel haben. Bei fast allen habe ich schon mal ein Gewitter erlebt, zuletzt auf dem Summer Breeze im letzten Jahr. Niemals kam es dabei zu einem Abbruch, und somit kann ich die Wut und die Enttäuschung mancher Besucher nachempfinden. Wenn man seinen Urlaub (für viele ist es genau das) einen Tag früher und nur mit einer handvoll Bands, die man gesehen hat, wieder beenden muss, ist das für jeden ärgerlich. Auf der anderen Seite habe ich es aber auch noch nie erlebt, dass eine Wettersituation über einen solch langen Zeitraum so angespannt geblieben ist, wie dieses Jahr auf RAR. Man muss vielleicht erwähnen, dass ich ja, anders als die meisten, in der luxuriösen Lage war zuhause zu schlafen, und dadurch einen ganz anderen Informationszugang hatte, sei es das Internet oder der Kontakt zu alten Feuerwehrkameraden, die mich auch immer wieder über die aktuelle Lage aufklärten. Somit war ich als „Ureinwohner“ jederzeit viel besser im Bilde. Vielleicht habe ich auf vielen Festivals vorher die drohenden Gefahren eben auch nicht so wahrgenommen, obwohl sie sicher bestanden. In einem Zeitalter, wo man trotz überbordender Vernetzung, auf Festivals doch noch so etwas wie „Technikurlaub“ macht, gar nicht mal so unwahrscheinlich. Trotzdem bleibe ich dabei, dass die Lage eine besondere war. So habe ich es zumindest empfunden. Der Eindruck ereilte mich noch nicht einmal während des Gewitters selbst, denn ich habe mich zu keiner Zeit unsicher gefühlt, als ich mich vor der Vulcano Stage so klein wie möglich zusammenkauerte und zusah wie das vor mir abgestellte Bier verwässerte. Bewusst wurde mir die schwierige Lage dann erst, als die Martinshörner der Einsatzwagen nicht mehr verstummen wollten. Im Taxi dachte ich dann so bei mir: „Verdammt! Da hattest du wohl Glück gehabt… mal wieder.“ Genau an diesem Punkt sehe ich übrigens ein Problem, denn die eigene Vernunft ist manchmal ein ganz schönes Arschloch. Viele Besucher schimpfen jetzt, dass es abgebrochen wurde, sei eine Frechheit und sehen dieses als Entmündigung. Es gibt nicht wenige, die sagen, dass sich jeder des Risikos, das er einging, bewusst war. Desweiteren hätte man ja wohl ein Anrecht darauf selbst zu entscheiden, ob man sich der Gefahr letztlich aussetzt oder nicht. Natürlich kann man so argumentieren, aber ganz so simpel ist es dann doch nicht. Erst einmal sind die wenigsten Besucher Experten, was die Gefahrenvermeidung ganz allgemein auf einem Festival angeht, und nur selten sind die Leute über die tatsächliche Lage genauestens informiert. Außerdem kommt natürlich hinzu, dass hoher Alkoholkonsum das Urteilsvermögen erheblich schmälert, und auch der, bei vielen vorhandene, jugendliche Leichtsinn ist nicht zu unterschätzen. Ich kann hier auch wieder nur aus eigener Sicht sprechen. Mich hat im Festivalmodus noch niemand aufgehalten eine Band zu sehen. 1997 war es mir genau so scheißegal, und mit genug Cuba im Kopf würde mich wahrscheinlich auch heute noch niemand bei dickstem Hagel davon abhalten können, Iron Maiden zu sehen, solange die Band auf der Bühne steht. „Manchmal muss man das Volk vor sich selbst schützen.“, geht mir ein Zitat eines bekannten Politikers durch den Kopf. Irgendwie scheint das auch zu dieser Thematik zu passen. Tragischer, aber vielleicht noch deutlicher sind dann z.B. die Selbsteingeständnisse eines Freundes, der am Freitag tatsächlich vom Blitz getroffen wurde. Der RAR-Veteran wurde mit Schwindel und Krämpfen ins Krankenhaus eingeliefert. Odin sei Dank, wurde er Samstag entlassen und es geht ihm gut. Er hat danach einen interessanten Satz fallen lassen: „Letztes Jahr war ich halt selbst nicht betroffen und hab weitergemacht.“ (Auch letztes Jahr gab es Verletzte nach Blitzeinschlag) Ich lasse den Satz einfach mal so stehen. Jeder kann selbst entscheiden, welche Schlüsse er daraus schließt.

Viel schlimmer, als den eigentlichen Abbruch, und auch die Suche nach der Antwort, ob es eine richtige Entscheidung war oder nicht, empfand ich das Bild, das zunächst für einen Außenstehenden entstand, wenn man sich diverse Interviews und Pressemitteilungen der Verantwortlichen anschaute. Einigkeit sah anders aus. Man schob sich gegenseitig den schwarzen Peter zu. Mittlerweile gab es seitens der Rock-am-Ring-Veranstalter ein versöhnliches Posting, das verlautbaren ließ, dass man sich nun daran mache, alle Folgen, Kosten etc. zu beurteilen, und eine gute Lösung für alle Beteiligten zu finden. Das ist in meinen Augen das richtige Zeichen, da allemal effektiver, als sich eine Schlammschlacht zu liefern. Die anfänglichen Plänkeleien zwischen den Verantwortlichen spiegeln witzigerweise die Seite wider, die man auch in den vielen Postings der Besucher findet. Denn es gibt verdammt viele Besucher die Verständnis für den Abbruch hatten, aber sich dann alleine gelassen gefühlt haben, als es darum ging das Gelände zu verlassen. Immer wieder werden Klagen laut über unzureichende Infos, chaotische Zustände, mangelnde Verpflegung, an z.B. Wasser bei der schwülen Hitze. Deshalb ist auch sicher die Wut bei manchen so hoch. Plötzlich war man nicht mehr ein Teil der Rock-am-Ring Familie, sondern viele fühlten sich wohl eher wie ein Klotz am Bein, der nicht mehr erwünscht ist. Ein gemeinsames Bild und eine gemeinsame Entscheidung aller Verantwortlichen hätten hier sicher zu einer besseren Organisation geführt, und die Besucher hätten sich mit ihren Sorgen sicher ernst genommener gefühlt. Damit möchte ich weder der MLK ihre Festivalerfahrung und ihre Kompetenz in Sachen Veranstaltung absprechen, noch den Verantwortlichen in den politischen Gremien. Eine entschlossene, gemeinsame Haltung wäre in dieser Situation aber das richtige gewesen. Die gab es aber wohl leider nicht und da ich bei der Entscheidungsfindung nicht dabei war, werde ich auch hier wieder keine Schuldzuweisungen heraus hauen. Tatsache ist aber auch, dass die Organisation stellenweise vom ersten Tag an grenzwertig war. Am Eingang West fehlten ständig die Bändchen, sodass viele vor allem in der Nacht gezwungen waren, von dort aus im strömenden Regen ihre Bändchen am Haupteingang in etwa 2,5 Kilometer Entfernung abzuholen. Dadurch war die Stimmung von Beginn an genervt, die Klamotten schon vor dem Aufbau völlig durchnässt und die Besucher frustriert. Einfach jemanden los zu schicken, der die Bändchen von A nach B transportiert, schien eine unlösbare Aufgabe zu sein, auch noch am darauf folgenden Tag. Das habe ich noch auf keinem anderen Festival erlebt, außer letztem Jahr auf „RAR“. Bändchen nach den Verkaufszahlen zu zählen, sie auf Vorrat zu haben und dann auch noch auf zwei Buden aufzuteilen scheint schwieriger, als gedacht. Eine andere Katastrophe war die Kontrolle an den Campingplätzen. Wenn Männer rumlaufen und Frauen mit einem Schlagstock auf deren Hinterteil schlagen, finde ich das sehr erschreckend. Und das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Wie kann es sein, dass man in der Lage ist, einfach so Waffen auf den Campingplätzen mit sich zu führen? Man kann nicht alles finden, denn auch die Securities sind nur Menschen, aber hier wurde noch nicht mal der grobe Versuch unternommen, mal stichprobenartig zu kontrollieren, was die Menschen so alles bei sich führen, zumindest nicht in der Zeit, in der ich da war. Dafür war ein Mitglied der Security am direkten Eingang zu den Bühnen aber sehr erbost über mich, als ich versuchte mit meinem Pfandbecher, der vom Festivalgelände stammte, das Konzertgelände zu betreten. Auf die Frage warum es nicht erlaubt sei, das auf dem Gelände vorher erworbene Getränk auch wieder mitbringen zu dürfen, hatte er selbstverständlich keine Antwort. Zum Glück war sein Kollege da professioneller, sonst würde ich heute noch diskutieren. Diese zwei Punkte zeigen auf, dass es vor allem an einer mangelnden Kommunikation zu liegen scheint und viele nicht den gleichen Informationsstand haben. So werden nicht alle Anweisungen gleich oder vielleicht sogar überhaupt nicht umgesetzt. Hier sollte man auf alle Fälle nachbessern. Fingerspitzengefühl wäre auch noch so eine Sache, ach hör mir auf das ist nicht nur ein Problem vom „RAR“, also lasse ich es gleich wieder. Vorbildlich dagegen muss man dann aber mal vor allem die Einsatzkräfte loben, die einen schnellen und megaguten Job gemacht haben, soweit ich es mitbekommen habe. 490 Krankentransporte und etwa 4900 Hilfsleistungen wurden durchgeführt, auch das noch mal zum Nachdenken mit auf den Weg. Ob diese Hilfeleistungen auch mit den immer schwerer werdenden Bedingungen durch den immer tiefer werdenden Boden auf den Rettungswegen und auf dem Gelände noch weiter möglich gewesen wären, ist eine weitere Frage, die mit Sicherheit auch eine Rolle bei der Entscheidung der Absage gespielt haben könnte, denn die Lage auf der das Sicherheitskonzept beruhte, hatte sich verändert. Machbar wäre auch das gewesen, aber ob es auch in der Kürze der Zeit möglich gewesen wäre, ist die andere Frage, die ich selbstverständlich auch nicht beantworten kann. Viele Faktoren haben eine Rolle gespielt und zum Abschluss kann ich nur alle, die jetzt den Finger heben und monieren, was richtig oder falsch gewesen ist, bitten, eine differenziertere Betrachtung in Erwägung zu ziehen, denn ich will weder auf der einen, noch auf der anderen Seite in der Verantwortung gestanden haben. Mein Gefühl aber sagt mir, dass richtig von der VG Mendig entschieden wurde, die Veranstaltung abzublasen, auch wenn die Lage am Sonntag entspannter, als angenommen war. Aber auf gut Glück ein Risiko eingehen? Wer hätte dann die Verantwortung übernommen, wenn es schief gegangen wäre? Die Prognosen sahen ganz anders aus. Ich kenne viele Personen, die auf der VG arbeiten und ich kann mir viel vorstellen, auch wenn ich selbstverständlich nicht dabei war, aber mit Sicherheit nicht, dass sie diese Entscheidung leichtfertig und ohne Absprache mit den Sicherheitskräften getroffen haben. Sicher hat das einigen auch gehörig Magenschmerzen bereitet. Aber das ist meine Meinung!

Was mich dennoch richtig als Mendiger verletzt, ist, wenn ich sehr vereinzelte Stimmen höre, die über Mendig im Allgemeinen schlecht reden und über die Menschen die hier leben. Viele haben geholfen und ihr bestes getan, ob privat oder als Helfer vor Ort, wie z.B. die Feuerwehr, die übrigens auch schon die Woche davor mit schweren Gewittern und extremem Hagel zu kämpfen hatte. In ganz Mendig ist es zu schweren Schäden gekommen. Ihr seid schlecht von einem Mendiger behandelt worden? Bitte! Dann macht das mit denjenigen aus, denn jeder ist nur für sein eigenes Handeln verantwortlich! Ihr mögt Mendig nicht? Dann umfahrt es weiträumig, es gibt genug Umgehungsmöglichkeiten! Denn am aller wenigsten können wir Mendiger etwas für das Wetter oder dafür, wer was entschieden hat. Das musste noch raus, sonst platzt mir der Sack! Ansonsten hoffe ich, dass wir uns auf „RAR 2017“ oder einem anderen Festival wiedersehen und friedlich im trockenen ohne Gewitter oder andere Katastrophen zusammen guter Musik frönen. „Schließlich wollen alle das Gleiche: abgehen zu arschtretender Musik.“ (Zitat :Stefan Eutebach, Deadsoil). Auch wenn die Geschmäcker da sicher oft böse auseinander gehen.

Grüße aus Mendig and stay heavy !

Autor
"Wenn man einmal dem Metal verfallen ist, ändert man seine Gesinnung nicht einfach von heute auf morgen." ( Parramore McCarty, Warrior)